ARTIKEL | Heute: Rassistische Gewalt und die Mitverantwortung etablierter Politik. Flüchtlingshelfer lassen sich von rechten Übergriffen nicht abschrecken
Seit Monaten vergeht kaum ein Tag, an dem es in der Bundesrepublik nicht zu rassistisch motivierten Attacken und Anschlägen kommt, die sich gegen Flüchtlinge, ihre Unterkünfte, Unterstützer und sogar etablierte Politiker richten. »Brandanschlag auf Flüchtlingsunterkunft in Dörfel«, »Menschenjagd in Dresden und die Polizei schaut weg: Mehrere Verletzte nach Angriffen durch Neonazis«, »Männer attackieren Somalier mit Messer«, »Angriffe auf Wohnungen von Asylbewerbern in Guben« – das sind nur einige der Schlagzeilen der letzten Tage. Von »Dreck« und »Ratten« ist in sogenannten sozialen Netzwerken wie bei Facebook zu lesen, wenn es auf das Thema Flüchtlinge kommt. Überzeugte Antifaschisten wie beispielsweise der Liedermacher Konstantin Wecker werden dort mit Spott, Verachtung und Hass überzogen. Wecker selbst gar als »linksgrünversiffter Altachtundsechziger« diffamiert, um hier nur eine der harmloseren Beschimpfungen beispielhaft zu nennen.
Nährboden bereitet
Angeheizt von Aufmärschen rechter Parteien, Organisationen und Splittergruppen, spielen sich mittlerweile nicht mehr nur neofaschistische Brandstifter als Vertreter eines vermeintlichen Volksempfindens auf, sondern auch Personenkreise aus der gesellschaftlichen »Mitte«, die bis dato nicht durch rechtsmotivierte Straftaten in Erscheinung getreten waren. Ein rassistisches Kartell, welches sich zum einen aus Neonazis, sogenannten Rechtspopulisten, dem Pegida-Straßenmob, der AfD, aber auch aus weiten Teilen der CDU/CSU und der Deutschen Polizeigewerkschaft (DpolG) speist, heizt die gesellschaftliche Stimmung gegen Flüchtlinge an und schafft so den Nährboden für die brutale Gewalt gegen schutz- und hilflose Menschen, die nach Europa geflüchtet waren, um Mord, Terror und Krieg zu entkommen. Hinzu kommt: Selbst Sozialdemokraten und Grüne wie Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer und sein Parteifreund, der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann, stimmen in den Chor der vermeintlichen »Bedenkenträger« ein.
Verwundern kann der Anstieg der Zahl rechter Gewalttaten vor diesem Hintergrund sicherlich nicht. Das Ergebnis der anhaltenden Hetze ist dennoch erschreckend: Insgesamt mehr als 850 Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte wurden in diesem Jahr bis Mitte Dezember verübt. Die Gewalt gegen die Unterkünfte der Schutzsuchenden hat sich damit im Vergleich zum Vorjahr vervierfacht. Über 1.610 Delikte wurden bis Mitte November dieses Jahres gezählt, die außerdem im direkten Zusammenhang mit der »Unterbringung von Asylbewerbern« standen. Mindestens ein Mensch wurde in diesem Jahr pro Tag Opfer rassistischer Gewalt. Bis einschließlich September waren es bereits 389 Gewalttaten, bei denen 300 Verletzte registriert wurden.
»Anstatt offensiv gegen die Gewalttäter vorzugehen, belässt es die etablierte Politik jedoch bei Allgemeinplätzen«, konstatierte die Linke-Bundestagsabgeordnete Sevim Dagdelen, die zugleich Beauftragte für Migration und Integration ihrer Fraktion ist, am Dienstag im Gespräch mit junge Welt. »Ich erwarte von den Verantwortungsträgern in Politik und Justiz und auch von der Polizei, den rechten Brandstiftern endlich das Handwerk zu legen und den Schutz der Flüchtlinge zu gewährleisten«, forderte sie. Schließlich sei es »ein unerträglicher Zustand, dass ausgerechnet Menschen, die vor Krieg, Hass und Gewalt geflüchtet sind, hier Opfer rassistischer Angriffe« würden. Dass es bisher nicht zu Todesopfern durch rechte Anschläge gekommen sei, sei reines Glück. »Wir erleben in Sachen Gewalt gegen Flüchtlinge seit Monaten eine unfassbare Kapitulation des Rechtsstaates«, kritisierte Dagdelen weiter. Vor allem die Regierungskoalition sollte »sehr genau darauf achtgeben, wo sie sich selbst zum Stichwortgeber der rechten Gewalttäter« mache. Wer neofaschistische und rassistische Gewalt ernsthaft bekämpfen wolle, müsse für die Gleichstellung der Flüchtlinge mit der hiesigen Bevölkerung eintreten. Die Zeit der Sonntagsreden sei vorbei. »Wer jetzt nicht handelt und klare Kante gegen den rassistischen Straßenterror zeigt, macht sich mitschuldig«, so Dagdelen weiter.
Offenbar scheint sich zu wiederholen, was diese Republik bereits zu Beginn der 1990er Jahre innenpolitisch schwer erschütterte. Zur Erinnerung: Die Westpolitiker hatten die DDR einverleibt und versuchten – nicht ohne Erfolg – Flüchtlinge als Sündenbock für die soziale Deklassierung der Ostdeutschen zu präsentieren. Die »Das Boot ist voll«-Rhetorik gipfelte damals in einer Welle mörderischer Gewalt, die nicht nur im Osten, sondern auch in westdeutschen Städten wie Solingen und Mölln Todesopfer forderte. Als Konsequenz aus den Pogromen schaffte eine übergroße Koalition sodann faktisch das bis dato bestehende Grundrecht auf Asyl ab und gab dem neofaschistischen Mob nach.
Jedoch scheinen weite Teile der Republik durchaus anders zu ticken, als es damals der Fall war. Im Gegensatz zu den Verhältnissen in den 90ern schauen viele Bürgern heutzutage keineswegs mehr weg, sondern packen an. In allen größeren bundesdeutschen Städten und Kommunen finden sich mittlerweile ehrenamtliche Initiativen, die Flüchtlinge bei Behördengängen begleiten, sie mit Kleidung und Lebensmitteln versorgen oder ihnen ganz unbürokratisch sogar private Unterkünfte zur Verfügung stellen. Auch durch Angriffe von Neonazis und anderen Rassisten lassen sich die Helfer und Unterstützer der Flüchtlinge nicht beeindrucken.
Auch etliche Organisationen wie der Deutsche Anwaltverein (DAV) tun das ihrige. So unterstützt der DAV mit seiner Stiftung »Contra Rechtsextremismus« Opfer rechtsextremer Gewalt indem er diesen die Interessenvertretung durch einen Anwalt ermöglicht. »Die Stiftung übernimmt die Kosten für Rechtsberatung und Rechtsvertretung von Opfern rechtsextremistischer oder politisch motivierter Gewalttaten, sofern sie bedürftig sind«, gab Micha Guttmann, Vorsitzender des Kuratoriums der Stiftung »Contra Rechtsextremismus«, jüngst bekannt.
Markt und hörige Politik
»Wir müssen uns vorsehen und zusammenstehen«, forderte kürzlich Konstantin Wecker, »denn sonst wird man eines Tages, da bin ich mir sicher, mit Entsetzen auf eine barbarische Zeit zurückblicken. Eine Zeit, in der ein sogenanntes zivilisiertes und vermögendes Europa Millionen Hungernden und Frierenden, Gestrandeten, Geflüchteten, Gejagten und Versehrten, Verfolgten und Missbrauchten – darunter unzählige Kinder – die Tore verschlossen hat, sie in Käfige sperrte, hinter Stacheldraht verbarrikadierte, anstatt sie zu wärmen, zu betten und sie mit Geschenken und offenen Armen zu empfangen«. Man werde berichten, dass es auch viele Bürger gab, »die sich helfend und mit viel Mitgefühl der Unmenschlichkeit widersetzen wollten, aber dass der Markt und seine ihm hörige Politik nichts anderes im Sinn hatten, als Gewalt mit Gewalt zu beantworten, neuen Terror zu züchten und sich am Elend der Ärmsten zu bereichern«. Und man werde »mit Schaudern erkennen, dass alle kulturellen Werte und Errungenschaften dieses Europas aus nackter Gier in den Wind geschossen wurden«, warnte er auf seiner Facebook-Seite.
Von Markus Bernhardt / JW